Ist der Weg das Ziel oder ist nur das Ziel das Ziel? Eine Erzählung davon, welchen Unterschied der Weg macht, den man zu seinem Ziel geht.
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Blumen am Weg

Zwei Menschen hatten Land geerbt und wollten es nutzen, um jeweils eine Siedlung zu gründen. Ödes Land, das ihnen rechtlich zwar zustand, aber wo sie die Bewilligung der Regierung benötigten um es wirklich bebauen zu können. Dazu mussten Sie zunächst in die weit entfernte Hauptstadt gehen, um dort vom Parlament die Erlaubnis einzuholen.

Der eine machte sich sofort auf den Weg in die Hauptstadt, traf dort aber auf Neider und Misstrauen. Und so mühte er sich über mehrere Jahre hinweg ab, mit den Ministern zu diskutieren die immer wieder neu fragten, warum er sein Erbe wie verwalten wolle. Er ließ schöne Modelle seiner Vision einer Stadt anfertigen; alles in der Hoffnung, das Parlament von seinem Vorhaben überzeugen zu können.

All der Widerstand kostete ihn Kraft und Zeit. Seine Familie zog notgedrungen mit in die Hauptstadt. Er fühlte sich oft allein und als ob jeder gegen ihn wäre. Korruption und Bosheit nagten an seiner Zuversicht. Dazwischen eine handvoll Wegbegleiter, die diese Familie wirklich unterstützten.

Als ihm das Parlament schließlich Recht gab kehrte der Mensch wieder zu dem Land zurück, dass ihm eigentlich von Anfang an rechtlich zugestanden hätte. Seine Familie hielt zu ihm, hatte aber auch unter den Erlebnissen in der Hauptstadt gelitten. Bitterkeit und Misstrauen waren eingezogen und ließen sich nur schwer wieder aus ihren Herzen vertreiben.
Doch sie hatten letztlich Recht bekommen, Standhaftigkeit bewiesen und sich nicht klein kriegen lassen. Nun konnten sie beginnen, ihren Garten und ihre Stadt zu bauen.

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Der andere Mensch beschloss, gemeinsam mit seiner Familie das öde Land zuerst zu bebauen, es mit Blumen und Bäumen zu bepflanzen damit ihre künftige Heimat schön wäre, wenn er aus der Hauptstadt zurückkäme. Das dauerte seine Zeit und die Familie ließ sich schon in der Nähe nieder. Auch bei ihm tauchten Neider und Feinde auf, die das Recht seiner Familie anzweifelten, dort zu bauen und zu pflanzen. Andere wollten Land von dem Erbe stehlen. Um sich davor zu schützen war ja letztlich auch die Anerkennung durch das Parlament nötig.

Als der Mensch sich dann auf den Weg zur Hauptstadt machte beeilte er sich nicht sondern hatte Werkzeug sowie Blumenzwiebeln und Samen im Gepäck, die er am Wegesrand pflanzte. Unterwegs sahen ihn viele Leute beim Pflanzen und so ergaben sich auch immer wieder schöne Gespräche.

Bei seiner Ankunft in der Hauptstadt waren seine Blumen bereits stadtbekannt. Einige Parlamentsmitglieder hatten sogar Urlaub auf dem Land der Familie gemacht und das entstandene Blumenmeer bewundert. Nun stand dieser Mensch vor ihnen und bat offiziell um das Recht, sein Erbe verwalten zu dürfen.

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Als sie ihr Ziel also beide erreicht und Recht bekommen hatten, als beide zurückgekehrt waren und ihr jeweiliges Stück Land bebauen durften: Welche der beiden Familien wird unterwegs mehr gewonnen, welche mehr verloren haben? Wessen Land hat länger brachgelegen? Wer mag eher Kampf, Leid und Misstrauen erfahren haben? Und wer hat schon viel Licht und Freude in das Leben der Menschen gebracht, bevor die Bauarbeiten seiner Stadt überhaupt begonnen haben?

© 2024 Max Weber