Wie beziffert man eine Präferenz?

Als ich erstmals mit Fachleuten der Charité Berlin sprach, wurde in der Diagnostik oft danach gefragt, das eigene Erleben und emotionale Dinge zu beziffern. In der Therapie dann wurde wiederholt das Sexualpräferenz-Männchen als Arbeitsblatt genutzt, dass hier kurz vorgestellt wird (Sexuologie 15 (3-4) 2008, Abbildung auf Seite 102). Mit diesem Post möchte ich ein paar Fragen zum Ausdruck, zur Wahrnehmung und zur wissenschaftlichen Exploration der Präferenzstruktur in die Runde werfen. Und eine Idee dazu vorlegen, die ich noch nirgendwo sonst gesehen habe.

Ich bitte ausdrücklich um Rückmeldungen zu diesen Gedanken und Fragen aus dem persönlichen wie aus dem Selbsthilfe- und dem therapeutischen Kontext. Was ich herausfinde möchte ich später wenn möglich zu einem neuen Beitrag verarbeiten.

Motivation

Seit dieser ersten Diagnostik beziffere ich mein Erleben als 70:30: zu 70% fühle ich mich von Mädchen vor oder um die Pubertät herum angezogen und zu 30% von erwachsenen Frauen. Also deutlich mehr von Mädchen aber durchaus auch von Frauen. Meine Ex-Freundin fragte mich deshalb einmal, was diese Zahlenangabe denn bedeute: dass ich sie als Frau nur zu 30% begehren könne, ein Mädchen aber viel mehr in mir auslöse? Könne sie denn überhaupt mit irgendeinem Mädchen mithalten, wenn diese an Attraktivität einen so großen Vorsprung bei mir hätten? Da war ich erstmal sprachlos und fragte mich, was sich denn da 70:30 aufteilt. Zwischen welchen Altersgruppen genau? Und finde ich Frauen weniger anziehend im Vergleich zu Mädchen oder nur weniger Frauen überhaupt anziehend im Vergleich zu Mädchen?

In einschlägigen Online-Communitys ist die Angabe des AoA üblich), was für „Age of Attraction“ steht (englisch für „Präferenzalter“): die Altersspanne der Menschen, die man hauptsächlich attraktiv empfindet. In den Nutzerprofilen oder Signaturen ist zu erkennen, dass man auch in diesem nicht-klinischen Kontext mit so einer vereinfachten Angabe schnell an Grenzen stößt: Die Leute werden teils recht kreativ um weitere Details wie unterschiedliche AoA pro Geschlecht auszudrücken oder dass man mehr als eine große Präferenzgruppe hat.

Dann ist da die Unklarheit der Fragen: Vergleichen wir Erwachsene mit Kindern, wo sind dann Teenager einzuordnen? Geht es um den Wunsch nach Sex oder eher um romantische Zweisamkeit, was für viele Menschen einen großen Unterschied ausmachen kann? Im klinischen oder wissenschaftlichen Kontext kann diese Frage beliebig spezifisch gestellt werden. Aber für den Alltagsgebrauch wie gegenüber nahestehenden Menschen?Viele Menschen haben auch gar keinen guten Bezug zu Zahlen und zum Rechnen. Mir wurde etwa schon mehrfach berichtet, dass selbst mit der in der Medizin weit verbreiteten Schmerzskala (von 0 (schmerzfrei) bis 10 (stärkster vorstellbarer Schmerz)) so manche überfordert sind. Ist es zu erwarten, dass sie mit Prozentangaben mehr anfangen können? Ich stehe der Wissenschaft und der Mathematik recht nahe, aber versetze ich mich in die Anfangszeit der Therapie: sollte ich mehr als 2 Präferenzgruppen auf 100% aufteilen hätte ich das als unnötige Gehirnakrobatik empfunden, die eine ohnehin schon emotional aufgeladene Frage nur schwieriger macht.

Und zuletzt die durch Prozentangaben implizierte Abhängigkeit unterschiedlicher Präferenzanteile voneinander. Das Kreisdiagramm beim Sexualpräferenz-Männchen ist tatsächlich sehr gut motiviert: hier wird nämlich ausdrücklich nach Anteilen an der Gesamtheit der Sexualfantasien sowie verschiedener Ebenen des Verhaltens gefragt. Aber auch hier kann im Verlauf einer Therapie folgendes auftreten: Sagen wir jemand gibt zu Beginn an, er stehe 50:50 auf Frauen und Mädchen und findet später heraus, dass er auch ein bisschen auf Jungs steht, nur halb so doll wie auf die anderen beiden Gruppen jeweils. Mit etwas Rechnerei kommt 40:40:20 raus, um das im Kreisdiagramm darzustellen. Das kann den Eindruck erzeugen, der „neue“ Präferenzanteil nehme von der Ansprechbarkeit auf Frauen und Mädchen etwas weg, während sich am Empfinden ihnen gegenüber vielleicht gar nichts geändert hat. Erfahrungsgemäß sind unterschiedliche Anteile nicht voneinander abhängig.

Mindestens ein Fragebogen, den ich bei der Teilnahme an einer Studie sah, löste dies so, dass auf mindestens 4 Seiten je eine Liste von Altersgruppen stand und jeweils nach der Stärke sexuell-erotischer oder emotional-romantischer Gefühle gegenüber männlichen bzw weiblichen Personen gefragt wurde. Je Altersgruppe unabhängig voneinander von 0-100%. Ähnlich wie beim 2. Selbsttest bei SuH.

Punkte, die ich also für wichtig/verbesserungswürdig halte:

  • Zugänglichkeit erhöhen: kein Rechnen erfordern um einen bestimmten Gesamtwert zu erhalten. Zum Beispiel indem nie mehr als 2 Optionen gleichzeitig verglichen werden
  • insofern auch das Bild einer Konkurrenz um Prozentanteile vermeiden
  • Flexibilität um an verschiedene Einsatzgebiete anpassbar zu sein
  • Anschaulichkeit der Fragestellung und der Ergebnisse für Laien
  • Klarheit, was genau erfragt wird (siehe unten)

Mein Vorschlag

Um das zu erreichen schlage ich vor, das Bild überschaubarer Grüppchen von Menschen zu verwenden und entsprechend der gerade aktuellen Fragestellung zu gestalten (eine unterstützende Visualisierung mit Piktogrammen wäre denkbar). Etwa so für einen sehr einfach gehaltenen Vergleich zwischen weiblichen Grundschulkindern, Teenagern und Erwachsenen:

  • Stellen Sie sich eine Gruppe von 10 zufällig zusammengewürfelten Grundschulmädchen vor. Wie viele von ihnen fänden Sie wahrscheinlich attraktiv?
  • Stellen Sie sich eine Gruppe von 10 zufällig zusammengewürfelten Mädchen im Teenageralter vor. Wie viele von ihnen fänden Sie wahrscheinlich attraktiv?
  • Stellen Sie sich eine Gruppe von 10 zufällig zusammengewürfelten erwachsenen Frauen vor. Wie viele von ihnen fänden Sie wahrscheinlich attraktiv?

Die Antworten darauf können auch als Prozentangaben interpretiert werden, jedoch pro Gruppe einzeln ohne Kopfrechnen zu erfordern oder das Bild eines begrenzten Gesamtkuchens zu erzeugen. Womöglich würden Probanden, die insgesamt nur wenige Menschen ansprechen, ganz anders antworten als jemand der viele attraktiv findet oder sich oft verliebt (selbst bei gleichen prozentualen Anteilen).

Es können viele Aspekte angepasst werden:

  • wie genau die Altersgruppen eingeschränkt werden. Für eine detaillierte Befragung kann etwa jedes Alter einzeln abgefragt werden oder nach Tannerstadien, für eine grobe Einordnung reicht es nur vorpubertär, pubertär und erwachsen abzufragen.
  • je Geschlecht kann einzeln gefragt werden und dadurch sogar leicht verschiedenen queeren Selbstidentifikationen entgegen gekommen werden, falls das in einem Kontext nützlich erscheint.
  • das Szenario kann variiert werden, etwa ob und wie die Personen bekleidet sind oder ob sie nur angeschaut werden oder eine Interaktion mit dem Probanden stattfindet etc. Etwa: „Stellen Sie sich vor, diese 10 Menschen bitten Sie jeweils um Hilfe“. Je nach dem Kontext.
  • die Fragestellung kann variiert werden: ob etwa allgemein nach Attraktivität oder nach „könnte mich verlieben“ gefragt wird oder einzeln nach sexuell-erotischen und romantisch-emotionalen Gefühlen und Wünschen („Mit wie vielen aus der Gruppe würden Sie gern dasunddas machen?“).
  • falls jemand Probleme hat, eine solche Gruppe zu visualisieren, kann der/die Fragesteller*in gegebenenfalls mit bildlich beschriebenen Sammelszenarien auszuhelfen wie: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ihrer Stadt mit mir spazieren und ich sammele 10 beliebige Leute je Gruppe ein, die ich Ihnen danach wieder vorführe“ oder „Stellen Sie sich jeweils Schulklassen vor.“

Vor allem aber ist dieser Ansatz unabhängig von den üblichen Schubladen wie „exklusiv“/„nicht-exklusiv“ oder homo/hetero/bi. Eigentlich basiert unsere Arbeit ja auf der Erkenntnis, dass es in der Realität keine diskret abgegrenzten Schubladen gibt. Dennoch erzeugt Sprache immer welche und viele Menschen möchten sich auch selbst gern irgendwie einordnen und bezeichnen können. Eine Befragung wie diese, denke ich, schafft nur praktische Schubladen aber keine, die das Individuum begrenzen.

Bitte an euch

Bitte lasst mich eure Erfahrungen mit dem Finden und Ausdrücken der eigenen Präferenz wissen.
Was hat dir geholfen, deine eigene Präferenzstruktur klarer zu begreifen? Wie drückst du sie gewöhnmlich aus und wie geht es dir damit? Wie haben andere sie verstanden oder missverstanden?
Wie sind deine Erfahrungen mit Tests, Anamnese und Befragungen wie etwa bei der Teilnahme an einer Studie?

Und an Fachleute: wie sehen die Erfahrungen im klinischen und wissenschaftlichen Kontext mit verschiedenen Erhebungsinstrumenten aus? Gibt es Lesetipps zu Studien oder Artikeln? Gibt es persönliche Erfahrungen/Beobachtungen?

Ich würde gern ins Gespräch kommen über diese Fragen und Ideen.

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Kommentare

Karamello 20.01.2025
Das ist ein interessantes Thema. Ich habe auch mal einen Test gemacht, und dabei kam heraus dass ich - Überarrschung ;) - am meisten von Mädchen in der Vorpubertät angsprochen werde. Die genauen Prozente weiß ich nicht, würde sie für mich aber so angeben: 80% Mädchen, 15% Knaben und 5% Frauen. Ich bin Kernpädo und mein Interesse und meine sexuelle Ansprechbarkeit ist zu gering, als dass ein Verlieben in eine Frau möglich wäre ;-)
Max Weber 19.12.2024
Ich mach mal den Anfang: Meine 70% und 30% beziehen sich ein wenig auf die Stärke der Anziehung aber viel mehr auf die Wahrscheinlichkeit, dass ich jemanden anziehend finde. Also wenn man mich vor Zehnergruppen von Kindern, Teenagern und Erwachsenen stellen würde, dann fände ich unter Jungs und Männern niemand interessant. Bei kleinen Mädchen vermutlich 7, unter Teenagern 2-5 und unter Frauen 3 Personen von 10. Die aber dann auch „richtig“, sprich: soweit ich das heute beurteilen kann, schränkt das meine Fähigkeit mich VOLL in eine Frau zu verlieben und sie zu begehren nicht ein. Das konnte ich dann auch meiner Ex-Freundin erklären und das hat ihre Sorge dahingehend erstmal beruhigt.